Der Erfolg der Serie "X-Files", zunächst als obskur abgeschrieben, nimmt kultische Dimensionen an. Überall Bettszenewerden Fanclubs gegründet, Pro 7 wiederholt bereits die erste Staffel. Hauptdarsteller David Duchovny äußert sich zu dem rätselhaften Phänomen.

Außerirdische landen meist auf Klatschseiten von Tageszeitungen, irgendwo zwischen Meldungen über mongoloide Babys, Rinderwahnsinn oder einen weiteren Massenmörder. Chris Carter mag solche Nachrichten. Der TV-Produzent hockt in einem kleinen Büro auf dem Filmgelände der Twentieth Century Fox, umgeben von obskurer Literatur über, "ETs", "Angels" und "Dolphins", Titeln wie "Conversation With Nostradamus", "UFO: The Continuing Enigma", "Cosmic To Secret" und das wohl seltsamste Buch der Bibliothek - die Schnulze "The Bridges Of Madison County". Jeden Morgen liest der blonde Sonnyboy die Zeitungen und Zeitschriften wie jeder leitende Angestellte. Ihn interessieren jedoch nicht die Börsennotierungen, sondern die bunten Seiten. Kürzlich habe er von einem fossilen Fund gelesen. "Im Spirit Lake beim Vulkan Saint Helen wurde eine Amöbe entdeckt, die sich durch radioaktives Wasser aus den anliegenden Kernkraftwerken zu einem Parasiten entwickelt hat, der einem das Gehirn zerfrißt. Man muß sich mal vorstellen, wenn man das Tierchen beim Baden einatmet!" Aus solchen gespenstischen Geschichten hat Carter seine Serie "The X-Files" konzipiert. Seit September 1993 geht der FBI-Beamte Fox Mulder mit seiner Partnerin Dana Scully unerklärlichen Ereignissen und ungelösten Todesfällen nach. Dabei geht es um Poltergeister und Phantasmen, Grenzbereiche in physikalischen und psychologischen Gesetzmäßigkeiten, mysteriöse Krankheiten und Katastrophen, Aberglaube - und natürlich um unbekannte Flugobjekte. "In den USA ergab eine Umfrage, daß fünf Millionen Menschen glauben, sie seien schon mal von Außerirdischen entführt worden", erzählt Carter. "That's my fuel." Die wirre Idee hat gezündet wie Raketentreibstoff. In rund 60 Ländern wird seine Serie heute ausgestrahlt. Sie erhielt TV-Trophäen wie den Emmy und Golden Globe und gilt als erfolgreichste Produktion in der Fernsehgeschichte. Hierzulande startete sie ein Jahr später unter dem Titel "Akte X - Die unheimlichen Fälle des FBI" auf Pro Sieben. Zur Zeit wird jeden Dienstag die zweite Staffel wiederholt, die dritte läuft erst Anfang September an. Obwohl die Serie nicht die öffentliche Aufmerksamkeit hat wie die bodenständige Niedlichkeit von "Kommissar Rex", schalten im Durchschnitt rund fünf Millionen Zuschauer ein. Der Boom beginnt erst jetzt.

Phänomenaler noch als die Quote ist in den USA bereits der Irrsinn jenseits der Serie. Fans nennen sich X-Philes, und ihr gläubiges Gebaren ähnelt dem der schon traditionellen Trekkies. Auch der Handel mit Devotionalien - Videos, Comics, Bücher, Soundtrack, Filemaker, Telefonkarten - gemahnt an die Merchandising-Macht des "Star Trek" - Kosmos. Tausende versammeln sich in Amerika auf Diskussionstreffen und in Informationskreisen, um über die Ankunft der Außerirdischen zu spinnen. Nicht wenige glauben gar, bei der "Akte X" handle es sich um eine Dokumentation. "Diese Paranoiden sind nicht unbedingt unser Publikum", meint Carter." Sie werden immer da sein, ob sie unsere Serie sehen oder nicht. Und sie werden auch immer mehr wissen, als die "X-Files" ihnen je bieten können. Über Ufos gibt es Tonnen von Literatur." Die massive Vermarktung der "Akte X" jedoch stört den 39jährigen, der früher für ein Surf-Magazin schrieb. "Das Video gibt es in jedem Laden zu kaufen. Ich fürchte, dadurch geht das Besondere verloren. Mir wäre es lieber, das Tape wäre nur in irgendeiner dieser verdammten Kifferbuden von Van Nuys erhältlich."

Wer Carter so reden hört, könnte ihn für einen bekifften Phantasten halten. Ein Spinner ist er allerdings nicht, mehr ein Gaukler, der einen Rollengriff durch die Menschheitshistorie von der Mythologie, der Magie und Mars-Manie bis zu den Makeln der Modernen vollführt. Carter will die Zuschauer ängstigen und dabei so glaubwürdig sein wie Orson Welles, der Ende der 3OerJahre im Radio eine Invasion vom Mars entfesselte und Panik in den Straßen. In den 5Oer Jahren schürten utopische B-Filme wie Jack Arnolds "It Came From Outer Space" oder "Invaders From Mars" von William Cameron Menzios die Furcht vor Attacken aus dem All. Don Siegels "Invasion Of The Body Snatchers" wurde gar als Metapher auf eine irdische Verschwörung gedeutet - die einen sahen antikommunistische Propaganda, andere eine Parabel gegen die McCarthy Hetze. Dann landeten die Amerikaner unter dem Präsidentamt von Kennedy vor den Russen auf dem Mond, und Kino und Fernsehen brachen in den Weltraum auf. Das Grauen war fortan irgendwo weit draußen - und vor allem in der Zukunft.

Nun sind die Aliens wieder unter uns. Die ,,Akte X" hat der Unterhaltungs - Industrie eine Welt geöffnet, die trotz der Bestseller des unermüdlichen Ufo-Gurus Erich von Däniken ein Narrendasein geführt hat und in den Medien höchstens zu spöttischen Kommentaren taugte. Auch Forscher, die alles analysieren, was unserer vordergründiger Vernunft widerspricht wofür es aber vernünftige Erklärungen gibt, galten lange als Exzentriker. Sie prägten für ihre Wissenschaft am Rande des Wahnsinns den Fachbegriff "paranormale Phänomene". Naturereignisse und energetische Felder wie in Pyramiden zählen dazu ebenso wie Hexen, Hellseher und die Heilung durch Handauflegen. Vor allem letztere, am Ende des letzten Jahrhunderts noch auf Jahrmärkten beheimatet, läßt die TV-Kirmes seit Beginn der 90erJahre durch tabulose Talkshows eine wundersame Wiederkehr erleben. In der amerikanischen Sendung "Extraordinary" berichtete Schauspielerin Angie Dickinson, sie habe Kontakt zum Totenreich gehabt. Bei "Schreinemakers" erhalten Geistheiler ein Forum. Die Unsicherheit an der Schwelle zur Jahrtausendwende macht empfänglich für das Übersinnliche. Der politische Umbruch im Osten, Aids und Viren, Genmanipulation und BSE, Ozon und Elektrosmog, die Pleite der Staaten und die Korruption ihrer Diener, Bürgerkriege, der Suizid von Sektierern, digitale Vernetzung und globale Konzern - Verflechtungen verwirren immer mehr Bürger. Von diesen Spiritismen, Schlagzeilen und Schreckensbotschaften handeln die X-Akten. In den 80erJahren wäre die Serie undenkbar gewesen. Damals waren alle an den Intriegen von J. R. interessiert, E.T. war ein knuffiges Kerlchen, das lediglich nach Hause telefonieren wollte, und die ungelösten Fälle von "Aktenzeichen XY" schienen nicht sonderlich unheimlich. Die "Akte X" entwirft auch kein Bild der Zukunft, sondern wirft - durch die bizarre Brille - einen Blick auf diese Zeit.

Wäre es nicht möglich, daß ein in Tschernobyl verstrahlter Seemann in den Abwässerkanälen von New York zu einem blutsaugenden Parasiten mutiert ist; das tiefgefrorene Gehirn eines genialen Wissenschafters seinen geisteskranken Bruder telepathisch lenkt, seine Forschungen zu beenden und seine Mörder zu beseitigen; ein anderer Wissenschaftler bei einem Betriebsunfall die schwarze Materie entdeckt, die aus seinen Schatten einen siedenden Abgrund macht; in einem Hochsicherheits - Gefängnis eine dem Ebola - Virus ähnliche Infektion ausbricht, weil Häftlinge von einem Pharmakonzern als Probanten mißbraucht wurden; die Geister verstorbener Greise sich an ihren sadistischen Altenpfleger rächen? Everthing goes - oder auch nicht.

Das alles sind Alpträume und Alltagsängste, und Carter spielt mit der Phantasie über das Böse und Unberechenbare, das sich in den Nischen unserer scheinbar geordneten Gesellschaft eingenistet hat. Er ist jedoch kein Apokalyptiker oder Kulturpesimist, und auch die Litanei und Auswüchse der Technokratie und Industrie ist ihm fremd. Das Phantastische von Jules Verne, die Horror Romane von Stephen King und Edgar Allen Poes Kombinations - Kurzgeschichten liegen hier nahe beieinander. Carter ignoriert den Zufall. Er streut alles in einen Zusammenhang, und läßt es doch für sich stehen. Exorzismus, Esoterik und Evolution sind gleichberechtigt gegenüber Informatik, Physik, Chemie und Mathematik. Das Absurde, so vermitteln viele Episoden, könnte womöglich nur abstrakt sein, und zuweilen das Abstrakte schlicht absurd. Zurück zur Natur wird es ohne Handy und Laptop nicht geben. Und könnten Fox Mulder und Dana Scully auch nicht arbeiten.

Die Versöhnung der Gegensätze manifestiert sich auch in den beiden Agenten. Vor allem ihre Charaktere tragen das auf den ersten Blick konfuse Konzept. Mulder hat in Oxford Psychologie studiert und wird beim FBI Analytiker in der Abteilung für Verhaltensforschung. Er glaubt, seine Schwester wurde von Außerirdischen entführt, und das Mißtrauen des Idealisten ist nicht sehr ausgepräg. Im Laufe der Serie wird sein Hang, jeden Humbug für einen Hinweis auf extraterrestrische Existenzen zu halten, zur Obsession. Sein Scharfsinn und Instinkt für unglaubliche Zusammenhänge schützen ihn nicht davor, als spleeniger Außenseiter betrachtet und bald "Spooky" genannt zu werden. "Sie sind als der Kollege, der an grüne Männchen glaubt!", wird er einmal von einer rigiden Inspektorin begrüßt, und Mulder antwortet auf Ihren Spott kühl: "Haben Sie ein Problem damit?" In den Archiven findet er mit einem X markierte Dokumente, die ungeklärte Fälle mit unnatürlichen Vorfällen enthalten. Je mehr er bemerkt, daß man ihn von der Lösung der Rätsel abhalten will, um so eifriger recherchiert er weiter. Mulder, meint Schauspieler David Duchovny über das Wesen der von ihm gespielten Rolle, "ist im Herzen ein Anarchist. Seine Leidenschaft entspringt dem Gefühl für Wahrheit und dem Glauben an Gerechtigkeit." Im Mittelalter wäre er als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, beim FBI bekommt er eine Aufpasserin. Dana Scully, dargestellt von Gillian Anderson, ist Ärztin und als solche von rationalen Prinzipien geprägt. Sie ist gegen den Willen ihrer Eltern zum FBI gegangen und deshalb um so ehrgeiziger, den Anforderungen zu genügen. Sie erhält von ihren Vorgesetzten die Anweisung, Mulders Ergebnisse auf wissenschaftlicher Grundlage zu prüfen. Wer aber warum einen G-man ausspionieren will, erfährt sie nicht. Selbst fürs FBI gibt es Geheimnisse und Grenzen.

Die nationale Verschwörung ist das stärkste Motiv der "Akte X". Amerika erlebte McCarthy, den Mord an Kennedy, Watergate, die Iran - Contra - Affäre und mit Bush einen ehemaligen CIA-Chef als Präsidenten. Die Macht des Pentagon, Manipulationen durch die Regierung, geheime Experimente und Stellen im Saat, von denen sogar der Senat nichts weiß, tauchen immer wieder in Episoden auf. Carter nennt sie "Mythologie - Folgen", weil sie Mulders und Scullys unbewußte Vergangenheit, ihre Feinde und deren Intentionen, seltsame Vorkommnisse und die UFO-Märchen miteinander verknüpfen, deutlich werden lassen und doch wieder verwischen. Ein fanatischer Träumer wie Mulder ist für Machtmenschen gefährlich, da er unerschöpflich und unbestechlich ist und eher sterben als aufgeben würde. Sein Tod aber würde ihn zum Märtyrer machen. Daher wird er vom inoffiziellen Informanten mit dem Decknamen "Deep Throat" mit geheimem Material versorgt, das ihm weiterhilft und doch von einer Wahrheit ablenkt, die niemand erfahren soll - und vielleicht auch niemand kennt. "Ich arbeite für Leute, die seit Jahrzehnten dazu da sind, Lügen zu verbreiten", sagt "Deep Throat" einmal väterlich zu dem jungen Naivling. Am Ende der ersten Staffel wandelt sich der Propagandist vom Saulus zum Paulus - er stirbt für Mulder. Seine letzten Worte: "Traue niemandem"

Jener Schwarzweißfilm, den TV - Sender im vergangenen Jahr als angebliche Autopsie eines Alien ausstrahlten, wäre symptomatisch für eine Episode der "Akte X". Verschwommene Bilder zeigten Pathologen in Schutzanzügen, die ein kleines, aufgedunsenes und greisenhaftes Wesen sezieren. Das Ding sei 1947 vom US-Militär aus einem in New Mexico abgestürzten Ufo geborgen worden, so ein britischer Reporter. Mediziner bewiesen, die Leiche sei ein an Progerie erkranktes Mädchen gewesen. Bei dieser Krankheit leiden Kinder an einem rasanten Alterungs - und Verfallsprozeß, der sie noch vor der Pubertät aussehen läßt, wie wir uns Marsmenschen vorstellen. In einer Folge sucht Mulder einen Truck, mit dem das Militär angeblich unauffällig einen lebendigen Außerirdischen an einen geheimen Ort transportieren läßt. Als Mulder in das bewachte Gebäude eindringt, ist der OP-Tisch im Labor leer. Das Wesen, sagt man ihm, sei tot. Nach jedem Fall hat sich der Spuk aufgelöst - gelöst ist er damit jedoch nicht. Verantwortliche müssen selten haften, stets bleibt Irritation zurück.

Carter imitiert die Wirklichkeit, die Wahrheit kennt er auch nicht. Er deutet Möglichkeiten an, knüpft Verbindungen. Immerhin würden zahllose Bildungsbürger bestätigen, wie recht er mit seinen Spekulationen hätte.

"Wir zeigen einen Teil aus der Welt, wie Oliver Stone sie sieht", sagte Duchovny. "Darin sind einige Bösewichte schuld daran, das es allen anderen schlecht geht. Wenn wir also diesen miesen, weißen Mittfünfziger finden, der Kennedy ermordet hat und mit einem Ufo herumdüst, wären alle glücklich." Natürlich besteht die "Akte X" im Kern aus dem klassischen Kampf der Guten gegen das Böse. Sie ist auch eine postmoderne Passionsgeschichte, und Mulder und Scully sind wie Adam und Eva, die noch rein als die letzten venünftigen Menschen der verlogenen, verrückten Welt widerstehen. Sie gehören zur Elite, könnten Yuppies sein, sind Singles, rauchen, trinken, fluchen nicht, machen ihre Arbeit mit Hingabe - und haben keinen Sex in der Ära von Aids vereinen sie die Ideale der Gesellschaft vor allem die Amerikas, und ähneln im Umgang der neckischer Prüderie in den Filmen der 40erJahre. Trotzdem - oder gerade deswegen -sind sie das romantischste und wahrhaftigste Liebespaar unserer Zeit. Es ist die Sinnlichkeit der Intelligenz, Liebe durch Respekt, eine metaphysische Affinität. Nur im Pilotfilm war Scully einmal in Dessous vor Mulder getreten, und er hatte in der dritten Folge (Anm. des Abschreibers: Die Folge hieß "3") eine Liaison mit einer Vampirfrau. Seitdem ist Mulders einziges Laster eine Kollektion von Pornovideos. In diese Marktlücke stieß bereits ein Sex-Streifen mit dem Titel "The XXX-Files".

Die Abstinenz erhöht die Glaubwürdigkeit der Charaktere, ihre Konzentration auf ihre Ziele. Die emanzipierte Skeptikerin muß den Eiferer vor seiner knabenhaften Euphorie beschützen, und sie begreift durch ihn die Logik des Irrationalen. Der Geschlechterkampf findet nicht mehr statt, Differenzen bleiben auf der geistigen Ebene. "Das glauben Sie doch nicht wirklich!?" ist eine typische Reaktion Scullys auf Mulders Hypothesen, dessen Antwort meist ist: "Haben Sie eine bessere Erklärung?" Wenn nicht, erklärt sie nach der Obduktion mit erstaunter Sachlichkeit: "Sie glauben nicht, was ich entdeckt habe." Carter weiß: "Sex würde die Konstellation zerstören." Aber es gibt wunderbare Szenen der Eifersucht, wenn er mit anderen Frauen fachsimpelt. Zudem warten jetzt alle auf ihren ersten Kuß.

Interpretationen, wonach Mulder asexuell oder sogar schwul sei, lösen bei Duchovny stets einen scherzhaften Seufzer aus: "Er ist beides definitiv nicht. Er mag Frauen. Und betonen muß ich immer wieder, daß ich sehr an Frauen interessiert bin." So wie bei Gillian Anderson sind Duchovnys Wesenszüge konträr zu denen seiner Rolle. Er ist smart, spitzfindig und nicht ohne Selbstgefälligkeit. Kurioserweise debütierte er im Pilotfilm zur Erotik Serie "Red Shoe Diaries" und in "Twin Peaks" spielte er einen transsexuellen FBI-Beamten. An der Yale - Universität verfaßte er seine Doktorarbeit zum Thema "Magic And Technology in Contemporary American Fiction And Poetry". An Außerirdische indes glaubt Duchovny nicht. Die Fans schicken ihm trotzdem Bücher und Briefe mit detaillierten Angaben, was Agent Fox Mulder für seine Aufgaben noch alles wissen müsse. Später könnte er wie Leonard "Spock" Nimoy seine Memoiren unter seinem Pseudonym "I'm Not Fox" veröffentlichen. Und er gönnt sich wie zum Beweis ein etwas anzügliches Kompliment an seine Kollegin: "Gillian Anderson hat keine Wespentaille oder Silicon - Oberweite, dafür eine enorme Ausstrahlung. Aber vielleicht denkt sie ja, sie sei nicht schlank genug und müßte mehr wie Pamela Anderson sein."

Gillian Anderson glaubt an spirituelle Kräfte, und sie hat auch nichts von Dana Scullys strenger Aura. Früher ging sie zu Konzerten der Dead Kennedys, heute hört die 27jährige noch Alanis Morissette oder die Foo Fighters. Britische Zeitungen nannten Gillian alias Scully "the thinking man's crumpet".

Sie fühlt sich geschmeichelt, aber auch sie hat bemerkt, "wie die Rolle in der Öffentlichkeit meine Persönlichkeit immer mehr absorbiert hat". So ist bei den Schauspielern einer Serie, in er es um Paranoia, Parapsychologie, Sein und Schein geht, das Schizophrene bereits angelegt. Für Carter sind beide Hauptdarsteller ein Glücksgriff: "Mit Gillians Verpflichtung habe ich die Serie und meine Karriere verbunden. Und ich fühle mich jeden Tag bestätigt."

Kaum jemand hatte geahnt, daß sich die "X-Files" mit ihrem auf den ersten Blick konfusen Konzept und nach einem mäßigen Start noch so kometenhaft gegen spießig -spaßige Sitcoms und dumpfe Detektiv - Reihen durchsetzen würde. Fünf bis sechs Jahre Laufzeit werden nun erhofft. An Themen mangelt es den Machern nicht: Indianerlegenden, Menschenfresser, Vererbungslehre, Massenmörder, Irrenanstalten, Untote, Hacker, übersinnliche Begebenheiten und immer wieder ein verwirrender Hinweis, ob es sich nun um Ufos oder Maschinen des MiIitärs handelt. "Die Storys", tönt Carter "sind da draußen!"

Die Authentizität der "Akte X" hat aber auch Kritik ausgelöst. Empfindliche Gemüter fürchten, der rote Faden über Manipulationen durch Lobbyisten, militärische Experimente und von der Regierung vertuschte Pannen könnte Zornige und Verbitterte zu Aktionen wie dem Bombenattentat in Oklahoma animieren. Für Carter ist das abwegig: "Die ist kein Aufruf zur Revolution. Die Serie bereitet zwar Fakten auf, bleibt in erster Linie aber Fiktion." Duchovny geht noch weiter: " Wir haben diese Abgründe nicht erfunden, sondern symbolisieren sie. Achselgeruch hat niemanden gestört, bis ein Fabrikant für Deodorants erklärte, daß es ein Problem ist. So sehe ich das auch mit unseren X-Themen. Wir benennen Probleme, die den Leuten gar nicht bewußt waren. Aber der Geruch ist immer zuerst da."

Das Böse materialisiert sich gerade für die dem Rauchen entsagenden Amerikaner im Gestank von Zigaretten, die ein dubioser namenloser Regierungsbeamter überall hinterläßt und sogar im Büro des stellvertretenden FBI-Direktors Skinner auf dem Schild "Don't Smoke" ausdrückt. Wenn Mulder eine Kippe jener Marke findet, wird er wieder daran erinnert, daß er von realen Phantomen umzingelt ist. Zu sehen ist das Böse und Brutale ohnehin nur kurz. Carter hält es mit dem Prinzip von Ridley Scotts "Alien", nach dem sich der größte Horror im Kopf abspielt. Und die Erkenntnisse durch Pychologie und Präzision in der Kriminologie können allemal noch mehr schocken als eine Schreckensfratze.

Von der zweiten Staffel lief zuletzt die erste Folge des Zweiteilers "Anasazi" (Anm.: Ist ein Dreiteiler). Mulder und Scully sind die Fälle für die X-Akten entzogen worden. Seine Gegner versuchen, Mulder zu vergiften. Als sein Vater ermordet wird, ermittelt er auf eigene Faust weiter. Sollte die Welt doch untergehen, wären Mulder und Scully das Paar, auf das sich die Menschheit neu gründen könnte. Nur - dafür müßten sie dann aber wirklich miteinander ins Bett gehen.

© Oliver Hüttmann, Rolling Stone Deutschland 7/96

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